Fehlende Akten, ein erpresster V-Mann und verweigerte Krebsbehandlung

Untersuchungshaft und Prozess gegen drei türkische Linke

| Henning v. Stoltzenberg, Bundesvorstand Rote Hilfe e. V.

Die Hungerstreikenden von links nach rechts: Sevil Sevimli, Eda Deniz Haydaroglu und Ilgın Güler. Lena Ileni Açıkgöz fehlt auf dem Bild. Das Bild wurde beim Prozessauftakt am 14. Juni 2023 im Besucher*innenraum des OLG aufgenommen. Foto: Henning von Stoltzenberg

Seit dem 14. Juni 2023 stehen die drei linken Aktivist*innen Özgül Emre, Serkan Küpeli und İhsan Cibelik in Düsseldorf vor Gericht. Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichtes (OLG) wirft ihnen vor, das so genannte Deutschland-Komitee der in der BRD verbotenen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) gebildet zu haben. Alle drei sind der Mitgliedschaft in einer „ausländischen terroristischen Vereinigung“ nach § 129b StGB angeklagt und haben mehrjährige Haftstrafen zu erwarten.

Die Journalistin, der Student und der Musiker der bekannten linken Band Grup Yorum waren Mitte Mai 2022 in ihren Wohnorten festgenommen worden und befinden sich seitdem in Untersuchungshaft. Bereits zu Beginn des Gerichtsverfahrens beantragten die Anwält*innen, das Verfahren einzustellen und die Angeklagten freizulassen, da es sich beim türkischen Regime, welches Angriffskriege führe und systematische Menschenrechtsverletzungen begehe, nicht um ein Schutzobjekt nach BRD-Gesetzeslage handele, was von Seiten des Senats erwartungsgemäß abgelehnt wurde.

Seit Prozessbeginn verweigern der Staatsschutzsenat und der Generalbundesanwalt die Akteneinsicht in die Verfahrensakten, die bezüglich des V-Manns des Inlandsgeheimdienstes „Bundesamt für Verfassungsschutz“ Murat Aşık existieren. Die Anklage gegen die drei Aktivist*innen fußt in weiten Teilen auf dessen Aussagen. Die Verteidigung war jedoch erst mit der Anklage darüber informiert worden, dass Murat Aşık für den Verfassungsschutz (VS) tätig gewesen ist. Aşık distanzierte sich in einer Video-Botschaft von seiner V-Mann-Tätigkeit und erklärte, vom VS mit seinem Aufenthaltsstatus erpresst worden zu sein.

Mit der Anklageschrift waren lediglich Teile dieser Akte in das Verfahren eingeführt worden, mit einem Schreiben vom 10. Mai 2023 folgten weitere Bruchstücke. Aus diesen ergibt sich laut Verteidigung, dass der Inhalt dieser Nachgänge, bis auf ein Vernehmungsprotokoll vom März 2023, dem Generalbundesanwalt seit mehreren Jahren bekannt und von ihm zurückgehalten worden war. Spätestens mit der Erhebung der Anklage hätte der Generalbundesanwalt die sachbezogenen Informationen zu den Ermittlungsakten bringen und dem Gericht vorlegen müssen. Da nicht ausgeschlossen werden könne, dass möglicherweise weitere sachbezogene Informationen zurückgehalten würden, müsse die komplette Ermittlungsakte im Verfahren gegen Murat Aşık beigezogen und Akteneinsicht gewährt werden, fordert das sechsköpfige Verteidiger*innenteam.

Bereits bei seiner Festnahme hatte İhsan Cibelik gegenüber den Verfolgungsbehörden erklärt, dass eine Biopsie vorgenommen werden müsse, da bei ihm der Verdacht auf eine Krebserkrankung bestehe. Erst über 15 Monate später wurde diese Untersuchung in der Uni-Klinik Köln vorgenommen und Prostata-Krebs diagnostiziert. Die daraufhin von der Verteidigung geforderte Entlassung zur medizinischen Behandlung wurde ihm weiter verwehrt. Diese begründet die Notwendigkeit einer sofortigen medizinischen Behandlung damit, dass es jetzt noch möglich sei, eine vollständige Genesung zu erreichen. Je länger die Behandlung hinausgezögert werde, desto größer werde die Gefahr, dass der Krebs sich ausbreite und streue, was zum Tod von Cibelik führen könnte. Diese Einschätzung wurde sowohl während der Prozesstermine als auch in zahlreichen Erklärungen mit medizinischen Fakten und Gutachten untermauert.

Dennoch lehnten Staatsschutzsenat und Generalbundesanwalt die Entlassung ab. In seiner Begründung bezweifelt die Bundesanwaltschaft die Notwendigkeit einer sofortigen Behandlung. Des Weiteren sehe sie die Gefahr einer Flucht des schwerkranken Musikers. Die Justizvollzugsanstalt (JVA) könne „mittelfristig“ einen Operationstermin in einer von der JVA bestimmten Klinik organisieren. Dieses „Zugeständnis“ kam erst nach großem Druck der Verteidigung und der Öffentlichkeit zustande.

Am 18. März 2023 trat Eda Haydaroğlu in einen unbefristeten Hungerstreik, um gegen den Gesinnungsparagrafen 129b zu protestieren und einen OP-Termin für İhsan Cibelik zu fordern. Wenig später schlossen sich ihr Ilgın Güler, Sevil Sevimli und Lena İleni Açıkgöz an, die von da an ebenfalls lediglich Vitamine und Flüssigkeit zu sich nahmen. Seit dem 19. Dezember war auch İhsan Cibelik zeitweilig in den unbefristeten Hungerstreik getreten, um seiner Forderung nach einer Krebsbehandlung außerhalb des Gefängnisses Ausdruck zu verleihen. Nachdem İhsan Cibelik ein OP-Termin im Februar zugesagt wurde, beendeten alle bis auf Lena İleni Açıkgöz ihre Hungerstreiks.

Die Angeklagten wünschen sich eine möglichst breitgefächerte Prozessbeobachtung und melden sich regelmäßig zu Wort. Das Solikomitee gegen 129b veröffentlicht Prozesstermine und ruft zu Protestaktionen auf. Dazu zählen Mahnwachen vor der JVA Köln-Ossendorf und dem OLG Düsseldorf, um sichtbare Zeichen der Solidarität mit den Angeklagten zu setzen.

Weitere Informationen: https://dhkpcverfahren2023129b.wordpress.com

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